Zahlen die Rostocker beim Müll drauf?

Ein OZ-Artikel vom 29.07.2010 und ein Leserbrief dazu

Um den nachstehenden Leserbrief und auch die folgenden zu verstehen, erscheint es notwendig, den OZ-Artikel zu zitieren:


Initiative übt Kritik: Zahlen Rostocker beim Müll drauf?

Auch beim neuen Müllvertrag der Stadt müssten die Bürger draufzahlen, kritisiert eine Initiative. Experten sehen das anders.

Stadtmitte (OZ) - Die Rostocker Initiative gegen Müllverbrennung hat die Neuausschreibung der Müllentsorgung in Rostock scharf kritisiert. Offensichtlich habe die Stadt aus Fehlern nichts gelernt, empört sich der Vorsitzende der Bürgerinitiative, Marcus von Stenglin. Und die Bürger müssten dafür zahlen.

Schon der alte Vertrag mit der Entsorgungs- und Verwertungsgesellschaft sei „sittenwidrig“ gewesen, weil die Vergabe ohne Ausschreibung erfolgte. Das hatte auch die Europäische Union moniert — Rostock musste den Vertrag vorzeitig kündigen (die OZ berichtete). Die EVG hatte daraufhin Schadensersatz gefordert. In einem Vergleich einigten sich Stadt und EVG, an der Rostock über die Stadtentsorgung selbst beteiligt ist, auf 11,3 Millionen Euro.

Die Müllentsorgung ab 2011 sei nun zwar europaweit ausgeschrieben, aber das sei auch schon die einzige Verbesserung, so die Initiative. Beispielsweise sei völlig unverständlich, warum der Vertrag eine Laufzeit von 15 Jahren habe. In der Zukunft werde es ganz andere Möglichkeiten geben, Müll zu verwerten. „Schon jetzt gibt es eine große Rohstoffarmut in ganz Europa.“ Recycling gewinne mehr und mehr an Bedeutung, so von Stenglin. Er gehe davon aus, dass Rohstoffe bald wieder direkt an der Haustür abgeholt würden. „Ich weiß nicht, was dann noch an Restmüll übrig bleiben soll.“ Nichtsdestotrotz wolle sich die Stadt verpflichten, bis 2025 jedes Jahr mindestens 41 000 Tonnen Müll abzuliefern. Beispiele aus Österreich zeigten, wie man stattdessen mit einem guten Müllmanagement erhebliche Kosten sparen könne, so der Arzt. Er befürchtet außerdem, dass die EVG auch der neue Entsorger sein könnte. Durch den Schadensersatz der Stadt sei die EVG bei ihrer Kalkulation im Vorteil, meint der Vorsitzende. Auch wenn Rostock in diesem Fall nur 6,8 Millionen Euro zahlen müsste. Der Rostocker Müll würde dann weiterhin in der mechanisch-biologischen Anlage im Seehafen verwertet — und verbrannt in der Anlage von Vattenfall, gegen die die Initiative seit Jahren erbittert kämpft.

Umweltsenator Holger Matthäus (Grüne) war gestern nicht zu erreichen. Der Vorsitzende des Umweltausschusses der Bürgerschaft, Steffen Wandschneider (SPD), kann „die Vorwürfe nicht verstehen“. Die Stadt habe neu ausschreiben müssen, zu dem Vergleich hätten Juristen dringend geraten. Und was die Laufzeiten angehe, so würden die Entsorger bei kürzeren natürlich ihr Risiko umlegen. „Beim Wasser haben wir die Verträge auch für 25 Jahre ausgeschrieben.“ Auch Professor Michael Nelles, Direktor des Instituts für Umweltingenieurwesen an der Uni Rostock, teilt die Befürchtungen der Initiative nicht. Ökonomisch mache es bei den derzeitigen Tiefpreisen in der Abfallbranche durchaus Sinn, einen Vertrag mit langer Laufzeit abzuschließen, erklärt er. „Viele Anlagen sind nicht ausgelastet.“ 2009 habe es deutschlandweit 100 Insolvenzen in der Branche gegeben. „Die Unternehmen kämpfen um jede Tonne Müll.“ Da im vergangenen Jahr in Rostock 61 000 Tonnen Müll angefallen seien, ließe die festgeschriebene Mindestmenge zudem noch Luft für andere Aktivitäten.

Sollte der Rostocker Müll künftig anderswo entsorgt werden, wäre das aber auch ökologisch fragwürdig, so Nelles. „Schon jetzt wird jede Tonne Abfall im Schnitt 300 Kilometer gefahren.“ Und dass die Bürger über die Maßen zur Kasse gebeten werden, kann er ebenfalls nicht bestätigen. „Die Gebühren sind nicht zu hoch.“

ANNE SCHEMANN“


Den Leserbrief von Dr. Günter Hering kürzte die OZ leider um den ersten Absatz – dabei fiel die Kritik am OZ-Artikel doch relativ moderat aus? Wir haben den nicht veröffentlichten Abschnitt kursiv gesetzt:


Experten sehen das anders“, schreibt die OZ. Aha: Bei der Rostocker Initiative für eine zukunftsfähige Kreislaufwirtschaft und gegen Müllverbrennung e.V. gibt es also keine Experten. Will die OZ uns Lesern suggerieren. Die Inhalte der Initiativen-Webseite www.rostock-mva.de hingegen belegen den Kenntnisreichtum des Vereins.


Schon heute kämpfen die Recycler gegen den Unsinn des Verbrennens, aber sie verlieren – unter anderem wegen der langfristigen Lieferverträge für die Müllverbrenner. Recycling ist schon heute kostengünstiger (klimafreundlicher ohnehin) als Verbrennung und könnte die Müllgebühren deutlich sinken lassen. Wenn man sich nicht auf 15 Jahre und mehr an einen Entsorger bindet! Wenn man der EVG nicht selbst dann noch „Schadenersatz“ zahlen will, wenn sie die neue Ausschreibung gewinnt! Wenn man überhaupt von „Schadenersatz“ spricht, obwohl doch die Vergabe ohne europaweite Ausschreibung gegen geltendes Recht verstieß. Wenn man die neue Ausschreibung an der Bürgerschaft vorbei so veröffentlicht, dass Abfallwirtschaftsbetriebe mit intensivem Recyclingengagement keine Chance bekommen, den Zuschlag zu erhalten.


Prof. Nelles verhuschelt die Dinge nicht zum ersten Mal. Aktuelle Tiefpreise für zu verbrennenden Müll gibt es nur auf dem freien Markt und nicht dort, wo langfristige Verträge abgeschlossen wurden. Was bekommt denn Vattenfall für den Müll, der zur zur Verbrennung frei Haus angeliefert wird? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, weder vom Umweltsenator (dessen Amtsbereich die Gebühren eintreibt und weiterleitet und der wissen sollte, auf welcher Grundlage diese Gebühren berechnet wurden) noch von der EVG und auch nicht von Vattenfall. Informationsfreiheits- und Umweltinformationsgesetz? Denkste!


Ganz daneben ist das Nelles-Argument, eine anderweitige Entsorgung wäre ökologisch fragwürdig, weil der Müll dann über weite Strecken transportiert werden müßte. Muß er eben nicht! Hier in Rostock sollten Recyclingkapazitäten geschaffen werden. Das bringt Arbeitsplätze, schafft Mehrwert und verringert die Luftbelastung gleich doppelt: Zum einen, weil die Verbrennung entfällt, zum anderen, weil beim Recyceln (bei gleicher Endqualität) weniger Energie gebraucht wird als bei der Erstherstellung des gleichen Materials. „Die Gebühren sind nicht zu hoch“, sagt Prof. Nelles. Das mag aus der Sicht eines Professorengehaltes zutreffen. Die Mehrheit der Rostocker Bürger hingegen würde eine Gebührenentlastung gut vertragen. Schließlich können nicht alle ins Umland ziehen, auch wenn in den benachbarten Landkreisen die Müllgebühren deutlich niedriger sind. Trotz eines höheren Transportaufwandes beim Einsammeln. Aber „Experten“ haben eben einen anderen Blickwinkel.